Herr Professor Kroemer, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat 2021 ein Gutachten speziell dem Thema Digitalisierung gewidmet. Hat das Dokument etwas in Gang gebracht?
Professor Kroemer: Meines Erachtens ist dies ein exzellentes Gutachten, es ist außerordentlich gut gemacht und beleuchtet das Problem der Digitalisierung von allen Seiten. Im Grunde genommen wäre es eine Blaupause dafür, was in Deutschland passieren müsste. Und es gibt mittlerweile tatsächlich eine Reihe an Aktivitäten seitens des Bundesgesundheitsministeriums, die wir unbedingt unterstützen sollten; etwa das Forschungsdatennutzungsgesetz oder die elektronische Patientenakte als Opt-out-Variante.
Das heißt, Sie haben den Eindruck, dass die Botschaft, die von dem Gutachten ausgeht, in der Politik angekommen ist?
Den Eindruck habe ich durchaus, jetzt geht es um die Umsetzung. Und da wird es in Deutschland die üblichen Widerstände geben. Aber es ist völlig klar: Wenn es nicht gelingt, die Digitalisierung voranzubringen, werden wir den derzeitigen Qualitätsstandard im Gesundheitswesen angesichts des demographischen Wandels nicht halten können.
Im Gutachten des Sachverständigenrates wird auch gefordert, das Thema Datenschutz neu zu denken. Was ist damit gemeint?
Damit ist gemeint, dass wir in Deutschland zu einer vernünftigen Balance zwischen dem Schutz von Daten und der Nutzung der Daten kommen müssen. Das sehen übrigens auch die Betroffenen so. Tumorpatient:innen geben bei Befragungen unisono an, dass sie die Daten, die bei ihrer Versorgung gewonnen werden und die therapeutisch relevant sind, für Forschungszwecke zur Verfügung stellen würden. Und ich bin der Überzeugung, dass die Bevölkerung insgesamt einer derartigen Nutzung ebenfalls sehr positiv gegenüberstehen würde. Abgesehen davon ist es ja auch so, dass bei uns die meisten Leistungen im Gesundheitswesen durch Ressourcen der Krankenkassen, also der Allgemeinheit, erbracht werden. Informationen, die mit den Ressourcen der Gesellschaft erhoben wurden, sollten dann auch zum Nutzen der Allgemeinheit verwendet werden.
Mit welchen weiteren Barrieren haben Einrichtungen wie die Charité bei der Digitalisierung zu kämpfen?
Ein großes Problem ist, dass die Umstellung auf ein digitalisiertes Gesundheitswesen nur unzureichend finanziert wird. Im Fallpauschalensystem gibt es dafür praktisch keine Mittel, und die Bundesländer als Verantwortliche für investive Anteile stellen bis jetzt nur überschaubare Budgets zur Verfügung. Deswegen sind Teile der Krankenversorgung in Deutschland immer noch nicht digitalisiert, und wir bekommen aus diesen Bereichen dementsprechend auch keine digitalen Daten. Das enorme Potenzial für die Versorgung, die Forschung und die Ausbildung, das in diesen eigentlich vorhandenen Daten steckt, bleibt dadurch ungenutzt.
Stichwort Forschung: Anfang des Jahres gab es Schlagzeilen, wonach BionTech die Krebsforschung oder Teile davon nach Großbritannien ausgelagert hat. Was war aus Ihrer Sicht dafür ausschlaggebend?
Großbritannien hat hinsichtlich der Krankenversorgung sicher kein besseres Gesundheitssystem als Deutschland, aber man hat dort alle klinischen Informationen, die aus der Versorgung entstehen, digital und damit exakt und schnell zur Verfügung; das hat man beispielsweise während der Corona-Pandemie gesehen. Auch Genehmigungsprozesse dauern dort nicht so lange, wie bei uns, wo regional unterschiedliche Regeln gelten und Bewilligungen teils auch von der politischen Konstellation vor Ort abhängen. Als Standort für klinische Studien sind wir dadurch gegenüber vergleichbaren Ländern ins Hintertreffen geraten. Deutschland ist mittlerweile von einem dichten Netz an Kontrolladministration überzogen. Das lähmt das Land an jeder Ecke.
Sie haben vorhin bereits den demographischen Wandel angesprochen. Was braucht es außer der Digitalisierung, um das Gesundheitswesen darauf vorzubereiten?
Aus meiner Sicht müssen wir dazu die Prävention voranbringen. An der Charité ist das auch Teil der strategischen Ausrichtung, wir bauen derzeit ein Präventionszentrum für Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf. Aber natürlich ist Prävention auch das Gebot der Stunde in der Onkologie. Studien zufolge ließe sich ein erheblicher Anteil aller Krebserkrankungen durch präventive Maßnahmen vermeiden.
Auch Vision Zero e.V. hat Digitalisierung und Prävention als wichtige Handlungsfelder für die Onkologie in Deutschland definiert. Sie sind Ehrenmitglied des Vereins und engagieren sich für dessen Ziele. Was zeichnet die Initiative aus?
Vision Zero e.V. hat sich ein hohes Ziel gesteckt, das man sicher nicht zur Gänze erreichen wird, das aber nichtsdestotrotz oder gerade deswegen sehr interessant ist und mit der Bezeichnung als Vision verdeutlicht wird. Darüber hinaus ist es die Vielfalt der Protagonist:innen, die die Initiative auszeichnet. Die Mitglieder und Unterstützer:innen kommen aus den unterschiedlichsten Bereichen, zum Beispiel aus der Industrie, der Forschung und der Versorgung, und alle verfolgen dasselbe Ziel. Das ist schon etwas Besonderes.
Professor Dr. Heyo K. Kroemer ist Vorstandsvorsitzender der Charité Berlin, Mitglied im Vorstand des Verbands der Deutschen Universitätsklinika e.V. und Ehrenmitglied des Vision Zero e.V.
Das Gespräch führte Günter Löffelmann; Erstveröffentlichung Juni 2023
Fotonachweis: Charité - Universitätsmedizin Berlin