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BERLIN
SUMMIT

Eine Vision Zero erreichen wir nur mit einer datengetriebenen Medizin
Prof. Dr. Hagen Pfundner
 
 

Das Rückgrat der klinischen Medizin ist die "evidenzbasierte Medizin", die sich auf prospektive Studien mit langen Untersuchungsintervallen stützt. Die evidenzbasierte Medizin unterliegt jedoch einer Reihe von Verzerrungen. Diese potenziellen Verzerrungen können mit der datengetriebene Medizin überwunden werden, da wir heutzutage große Datensätze anhäufen, aus denen KI-Algorithmen lernen und Assoziationen zwischen medizinischen Datenelementen entdeckt werden können, die zuvor möglicherweise nicht erkannt wurden. Die sogenannte datengetriebene Medizin ist frei von kognitiven Verzerrungen; im Unterschied zur evidenzbasierten Medizin ist sie retrospektiv, d. h. sie beobachtet Muster in bereits vorhandenen Daten. Sie wird damit zu einem präzisen Echtzeit-Ansatz in der täglichen Medizin und ermöglicht einen echten Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie wir medizinische Entdeckungen betrachten.1 Die datengetriebene Medizin hat sich damit auch als ein Motor für die individualisierte, personalisierte Medizin der Zukunft erwiesen und ermöglicht das, was wir Vision Zero nennen: Die Zahl der vermeidbaren krebsbedingten Todesfälle auf null senken.

 

Ob wir diese Vision Zero erreichen, hängt davon ab, wie innovativ, resilient und nachhaltig unser Gesundheitssystem ist. Das wiederum hängt vor allem auch von Fortschritten in der Digitalisierung und der Nutzung von Gesundheitsdaten ab. Denn eine präzisere und besser auf den einzelnen Patienten zugeschnittene Früherkennung und Therapie werden wir nur bekommen, wenn wir Daten strukturiert erheben, sie zwischen verschiedenen Datenbanken austauschen, sie mithilfe von Algorithmen analysieren und mithilfe künstlicher Intelligenz bestmögliche Entscheidungen treffen. 

 

Welche konkreten Schritte gilt es also zu tun, damit wir einer datengetriebenen und personalisierten Medizin und der Vision Zero näher kommen? 

Wir wollen dabei auf den Aufbau des European Health Data Space (EHDS) verweisen und die Voraussetzungen, die auf deutscher Bundes- und Landesebene geschaffen werden müssen, um EHDS aus Deutschland heraus zu ermöglichen. In Deutschland bietet das im Koalitionsvertrag angekündigte Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) die entsprechenden Anpassungen zum EHDS hin umzusetzen. Baden-Württemberg ist für Deutschland vorangegangen und hat Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik an einen Tisch geholt und für Deutschland einen Katalog an Handlungsempfehlungen zur Ausgestaltung des GDNG erarbeitet, welche Gesetze angepasst und welche Schritte vorgenommen werden müssen. Dieser "Entschließungsantrag” zur Ausgestaltung eines GDNG wurde vom Bundesrat im Dezember 2022 beschlossen. Alle darin enthaltenen Empfehlungen sind ein hervorragender Anknüpfungspunkt, um eine datengetriebene und personalisierte Medizin zu ermöglichen und der Vision Zero näher zu kommen, weshalb wir an dieser Stelle nichts neues erfinden, sondern bestehendes mit unterstützen und umsetzen müssen. 

 

Was gilt es zu tun?

 

1.      Die Gesundheitsdateninfrastruktur ist schnell, vernetzt und dezentral auszubauen, damit vorhandene Daten über Sektorengrenzen hinweg genutzt werden können. Die Telematikinfrastruktur muss zu einer Gesundheitsdateninfrastruktur ausgebaut und für den EHDS ertüchtigt werden. Das Patientenwohl muss dabei der Maßstab für die Weiterentwicklung der Gesundheitsdatennutzung sein.

 

2.      Die Standards zur Datenerhebung, -speicherung und -verarbeitung sind so zu regeln, dass die Interoperabilität und damit die Nutzung für Versorgung und Forschung verbessert und ein reibungsloser Datenzugang und -austausch nach internationalen Technikstandards ermöglicht wird. 

 

3.      Die zahlreichen Initiativen zur Datenvernetzung und -nutzung (z. B. Telematikinfrastruktur, Medizininformatik-Initiative, Nationale Forschungsdateninfrastruktur, Netzwerk Universitätsmedizin, genomDE) sollten zügig zusammengeführt und finanziell nachhaltig organisiert werden. Dabei muss darauf geachtet werden, dass neben Daten des stationären bzw. universitätsmedizinischen Bereichs gleichermaßen ambulante und pflegerische Daten einbezogen und Silo-Strukturen aufgelöst werden. Dabei sind neben allen Sektoren auch die Industrie und die Krankenkassen einzubeziehen.

 

4.      Die elektronische Patientenakte ist ein Dreh- und Angelpunkt für die Gesundheitsdatennutzung in der Gesundheitsversorgung. Sie ist so zu gestalten, dass sie eine Datennutzung niedrigschwellig und unkompliziert ermöglicht, und sie ist grundsätzlich für alle Bürgerinnen und Bürger einzurichten. Um die Entscheidungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich einer Zurverfügungstellung ihrer Daten zu erhalten, wird eine Widerspruchsmöglichkeit eingeführt (sog. Opt-out-Möglichkeit). Der Gesetzgeber sollte auch bei weiteren außerhalb der elektronischen Patientenakte gespeicherten Gesundheitsdaten Opt-out-Optionen bei der Freigabe prüfen bzw. die flächendeckende Anwendung von Einwilligungsverfahren (z. B. Modelle der breiten Einwilligung „broad consent“ oder der dynamischen Einwilligung „dynamic consent“) gesetzlich regeln.

 
 

5.      Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in eine Nutzung ihrer Gesundheitsdaten zu fördern, sind technische, organisatorische und rechtliche Sicherungsmaßnahmen zur Minimierung der Risiken der Datennutzung zu ergreifen und durch wirksame Sanktionen bei Verstößen gegen die Nutzungsvorschriften zu flankieren. Eine ressourcenschonende Umsetzung in den Einrichtungen – beispielsweise durch Verbundlösungen – sollte angestrebt werden. Wesentlich ist dabei, dass die Daten für Forschungszwecke nach dem Vorbild des EHDS ausschließlich in einer sicheren Verarbeitungsumgebung zur Verfügung gestellt werden.

 

6.      Mit dem Aufbau des Forschungsdatenzentrums als einer zentralen Zugangsstelle unter staatlicher Kontrolle sollte auch eine Regelung gefunden werden, nach der lediglich eine Datenschutzbehörde für das jeweilige Forschungsvorhaben zuständig ist. Zugleich sollten die bislang unterschiedlich gestalteten Zugangsmöglichkeiten und -verfahren rechtlich vereinfacht und vereinheitlicht und mit Gebührenregelungen versehen werden. Dies gilt auch für Bewertungsprozesse der Ethikkommissionen.

 

7.      Der Zugang zu Gesundheitsdaten soll nicht wie bislang an die Rechtspersönlichkeit oder weitere Eigenschaften des Antragstellers oder der Antragstellerin geknüpft werden, sondern nach dem Vorbild des EHDS und der DSGVO an die Nutzungszwecke. Dies schließt die Gesundheitswirtschaft ausdrücklich ein. Durch von der Industrie entwickelte Innovationen kann die Versorgung verbessert und somit zum Gemeinwohl beigetragen werden. Die zulässigen Zwecke der Datennutzung sind am Patientenwohl auszurichten und eindeutig zu definieren, ebenso wie die Verarbeitungsverbote und Pflichten zur Veröffentlichung der Forschungsergebnisse. Dabei sollten die zulässigen Zwecke insbesondere auch die Nutzung für medizinische Innovationen, die Produktsicherheit und die Gesundheitsberichterstattung berücksichtigen.

 

8.      Die Digitalkompetenz sowohl der Patientinnen und Patienten als auch der Leistungserbringenden ist entscheidend für die Akzeptanz und tatsächliche Nutzung von digitalen Angeboten. Benötigt werden daher eine einheitliche Strategie und entsprechende Ressourcen, um die Digitalkompetenz strukturell im Gesundheitssystem (u. a. in Studium, Aus-, Fort- und Weiterbildung des medizinischen und pflegerischen Personals) zu verankern. Auf Seiten der Patientinnen und Patienten können Datentreuhänder unterstützend wirken und die Nutzung digitaler Angebote befördern.

 

Neben diesen Handlungsempfehlungen hat auch der Verein Vision Zero bereits im Jahr 2020 mit der “Berliner Erklärung” eine breite Debatte zum Thema Digitalisierung des Gesundheitswesens in der Onkologie angestoßen. 

 

In der Theorie haben wir also die Vorteile der Digitalisierung und einer datensteuerten Medizin längst erkannt und viele Handlungsempfehlungen sind seither ausgearbeitet worden. 

Nun gilt es “in die Umsetzung zu kommen”. Dafür müssen alle Beteiligten ihre Kräfte und Aktivitäten bündeln. Wir müssen uns frei machen von der notorischen „German Angst“, von unserem Bedürfnis, hundertprozentige Klarheit zu haben, bevor wir Technologien zulassen und Fortschritt ermöglichen, denn das wird nie möglich sein. Wenn wir so fortfahren wie bisher, wird der Fortschritt woanders stattfinden. 

 

Lassen Sie uns also anfangen: Wer sind die Stakeholder, deren Kräfte und Aktivitäten es bündeln gilt und wo fangen wir “mit dem Umsetzen” an?

 

 

Ein Beitrag von Prof. Dr. Hagen Pfundner, Juni 2023.

Fotonachweis: Roche Pharma AG

 

 

1 Rowley, Robert: The relationship between evidence-based and data-driven medicine (25.10.2017), https://www.cio.com/article/230886/the-relationship-between-evidence-based-and-data-driven-medicine.html